Informationen, Konzepte und Materialien zum Interkulturellen Musikunterricht

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In meinem Wikipedia-Artikel " Interkulturelle Musikerziehung" habe ich zunächst zwischen "Interkultureller Musikerziehung (mit großem "I") und "interkultureller Musikerziehung" (mit kleinem "i") zu unterschieden:

Mit der Interkulturellen Musikerziehung (mit großem „I“) wird in Deutschland seit 1983 die gesamte wissenschaftliche, bildungspolitische und didaktische Diskussion um interkulturelle Bildung durch Musik, um interkulturelle Kommunikation im Musikunterricht, um interkulturelle Kompetenzen durch Musik, um "Musik der Welt" als Unterrichtsgegenstand, um trans- und multikulturelle musikalische Identitäten sowie die Praxis eines konsequent schülerorientierten Unterrichts bezeichnet.

Im engeren Sinne bezeichnet interkulturelle Musikerziehung (mit kleinem „i“) ein bestimmtes Konzept Interkultureller Musikerziehung, das sich von multikultureller und transkultureller Musikerziehung abgrenzt und einen Schwerpunkt auf Musikunterricht mit Kindern mit Migrationshintergrund legt.

Da ich beobachtet habe, dass in den vergangenen Jahren vor allem Professor/innen und Doktorand/innen statt von "Interkultureller Musikerziehung" nun von "Interkulturelle Musikpädagogik" sprechen, habe ich in Wikipedia noch folgendes geschrieben: Wird statt von (Interkultureller) „Musikerziehung“ von (Interkultureller) „Musikpädagogik“ gesprochen (zur Unterscheidung Musikpädagogik/Musikerziehung siehe Musikpädagogik), ist die Theorie und der wissenschaftliche Diskurs und weniger die Anleitung zu konkretem praktischen Handeln oder die Unterrichtsmethodik gemeint.

Warum nicht "interkulturelle musikalische Bildung"?

Als der Terminus "Interkulturelle Musikerziehung" von Irmgard Merkt geprägt wurde, wurde das Wort "Erziehung" in der einschlägigen Szene gegenüber dem Wort "Bildung" bevorzugt. "Bildung" stand für eine bürgerlich-pathetische Vorstellung vom Menschen, der zu einer gebildeten Persönlichkeit geformt ("gebildet") werden sollte. Die gebildete Persönlichkeit wusste sich in gebildeten Kreisen zu benehmen, kannte Brahms' drei Sinfonien und wusste, wie man mit Messer und Gabel isst. "Erziehung" war demgegenüber einfach die Beschreibung einer Tätigkeit, die - wenn man es unbedingt wollte - "Bildung" zum Ergebnis hatte. Heute jedoch scheinen sich die Wortbedeutungen und -konnotationen fast umgekehrt zu haben. Alle sprechen von "Bildung", es gibt "Bildungsgrundsätze" (die z.B. in NRW recht fortschrittlich sind), "Bildungsministerien", "Bildungseinrichtungen" (wehe man spräche von einer "Erziehungsanstalt", wenn man eine Bildungseinrichtung wie die VHS meint), Bildungsurlaub usw. Bei "Erziehung" hingegen kommt einem ein Film wie "Das weiße Band" oder gar die Stockstrafe in den Sinn, obwohl immer noch Mütter und Väter ihre Kinder erziehen. Dennoch: "bilden" suggeriert Selbstbestimmung (der Schüler "bildet sich"), "Erziehen" Fremdbestimmung (der Schüler "wird erzogen").

Man könnte in der Tat statt "Musikerziehung" nun "musikalische Bildung" sagen so, wie man "kulturelle Bildung" und auch "interkulturelle Bildung" sagt. Aber das läge wieder ganz nahe an der "musischen Bildung", was politisch nicht korrekt wäre. Als FAZIT: es bleibt zunächst dabei, dass von "interkultureller Musikerziehung" gesprochen wird.

Prognose: Ich vermute übrigens, dass man demnächst von "interkulturellem Musikunterricht" sprechen wird, weil dadurch das Erziehungs-Bildungs-Problem umgangen wird. Vorbildlich ist diesbezüglich der neue musikpädagogische Verband "Bundesverband Musikunterricht".

Weitere (logische) Probleme:

Man spricht von "interkultureller", "multikultureller" und "transkultureller" Musikerziehung bzw. Musikpädaggik oder manchmal auch Musikvermittlung. Streng genommen ist jede dieser Bezeichnungen ungenau. Die drei Attribute gehören zu unterschiedlichen Phänomenen:

- interkulturell ist beispielsweise eine Kommunikation, eine Beziehung, ein Gespräch und eine Lernsituation in der Schule; man spricht von interkultureller Kommunikation, einer interkulturellen Begegnung - und in diesem Sinne sprach Irmgard Merkt auch von "interkultureller Musikerziehung". Ganz und gar unpassend ist eigentlich die Bezeichnung "Interkulturelle Muskpädagogik", es sei denn man verstehe darunter die Theorie der "interkulturellen musikalischen Kommunikation".

- multikulturell hingegen ist die Eigenschaft einer Gruppe, der Gesellschaft, einer Community, einer Schule oder einer Klasse; ein Gespräch kann nicht multikulturell sein, wohl aber eine Gesprächsgruppe; wenn ich von "multikultureller Musikerziehung" gesprochen haben, dann wollte ich damit verkürzt eine Musikerziehung bezeichnen, deren Ziele sich aus den Erfordernissen einer multikulturellen Gesellschaft ableiten lassen; "multikulturell" ist dabei eine wertfreie Zustandsbeschreibung und besagt eigentlich nichts über das Verhältnis der verschiedenen Kulturen zueinander (d.h. ob sie interagieren, sich gegenseitig in Ruhe lassen oder bekämpfen).

- transkulturell ist die Eigenschaft eines einzelnen Menschen. Wenn mann von einer "transkulturellen Gesellschaft" spricht, so meint man eine Ansammlung transkultureller Menschen. Weder kann ein Gespräch transkulturell sein noch ein Unterricht; wenn von transkultureller Musikerziehung gesprochen wird, dann ist ein Unterricht gemeint, der berücksichtigt, dass die Schüler/innen transkulturelle Menschen sind oder, falls sie es nicht sind, werden sollen.

Kategorisierungsversuch 2012: Tiago de Olivera Pinto und Eva-Maria von Adam-Schmidtmeier sagen (hier ist der ganze Aufsatz!): "Ganz einfach auf den Punkt gebracht heißt das:

multikulturell = mehrere Kulturen co-existieren nebeneinander;
interkulturell = unterschiedliche Kulturen begegnen sich, stellen gewissermaßen einen Dialog her;
transkulturell = den Dialog intensivierend oder auch die Co-Existenz nutzend, durchdringen und bedingen sich Kulturen gegenseitig."

Oder sind es nur "Modelle"? Auf der vorliegenden Site habe ich die drei in Frage kommenden Phänomene auch als "Modelle" der Interkulturellen Musikerziehung (mit großem "i") abgehandelt. Siehe dazu Modell 4 (mit der Bezeichnung "Schnittstellenansatz"), Modell 11 und Modell 12.

Mit dieser Auffassung wird die gesellschaftspolitische Diskussion allerdings auf die Stufe einer gewissen Beliebigkeit herab gestuft. Zudem wird man den 13 Modellen, die ich dargestellt habe, anmerken, dass sie ganz und gar uneinheitlich sind. Einige beziehen sich auf Inhalte, andere auf Methoden und die dritten auf Ziele oder Konzepte der Begründungen.

Und in der Praxis?

In der Praxis hat man es in der Schule eher mit vier anderen "Kategorien" zu tun, wie sie Katrin Reiners 2012 herausgearbeitet hat:

1. Schüler/innen, für die der Migrationshintergrund überhaupt keine Rolle mehr spielt, die sich also als monokulturell Deutsche präsentieren, für die beispielsweise das Herkunftsland der Vorfahren allenfalls ein Urlaubsreiseziel ist und die niemals auf die Idee kämen, sie seien etwas anderes als stink-normale Deutsche;

2. Schüler/innen, die sich als monokultuelle Ausländer fühlen und inszenieren unabhängig davon, ob sie darunter leiden oder das cool finden - in der Regel leiden sie unter etwas, was sie bewusst reproduzieren, weil sie ihr Leid cool finden -, die gleichsam in einer Parallelgesellschaft leben unabhängig davon, ob und wie sie die Vorteile der Mehrheitsgesellschaft zu nutzen und schätzen wissen;

3. Schüler/innen, die aktiv bikulturell oder multikulturell sind, die genau zwischen zwei Kulturen unterscheiden (können) und sich je nach Bedarf aus einer der beiden Kulturen bedienen, wobei der häufigste Fall der ist, dass ein Kind oder eine Jugendliche sich zu Hause der einen, in der Schule und im öffentlichen Raum der anderen Kultur zurechnet und beide Kulturen auch erfolgreich und selbstbewusst handhaben kann;

4. Schüler/innen, die man als transkulturell bezeichnen könnte, die sich zwar ebenfalls mehrerer Kulturen bedienen, dies aber nicht mehr bewusst tun, sondern auf der Ebene eines neuen, gemischten Stils, der ihr ganzes Leben prägt.