Informationen, Konzepte und Materialien zum Interkulturellen Musikunterricht

Texte

Wolfgang Martin Stroh (2005):

Musik der einen Welt

Auszüge aus einem Artikel für das Handbuch "MusikDidaktik - Praxishandbuch für die Sekundarstufen I und II ", 1. Auflage, hg. von Werner Jank. Cornelsen-Verlag, Berlin 2005, S. 185-193. In der 8. Auflage aus dem Jahr 2021 erschien ein erheblich aktualisierter Artikel.

tarantella1

Vorgeschichte

Die Idee und der Begriff einer „Weltmusik“ taucht kurz nach der Pariser Weltausstellung 1889 auf, als Claude Debussy javanische Gamelanmusik rezipiert und Georg Capellen seinen Aufsatz „Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer Neuen Kunstentwicklung“ publiziert. Capellen (1906, 216) stellt fest, dass die „europäische Melodik, Tonalität und Rhythmik“ erschöpft sei, die Komponisten in die Ferne schweifen und „nach neuen Quellen, aus denen die Phantasie schöpfen könnte, um die brach liegende Erfindungskraft zu stärken und zu beleben“, Ausschau halten sollten. Carl Orff zeigt sich zwei Jahrzehnte später von solchen Globalisierungs-Ideen auch musikpädagogisch inspiriert, wenn er sich für Instrumente und Spielpraxen aus Indonesien, Afrika und dem Nahen Osten interessiert (vgl. Merkt 1998).

Während Capellen oder Debussy an die Belebung der europäischen Kunstmusik auf  kompositionstechnischer Ebene denken, geht Carl Orff eher von einer „archetypischen Erneuerung“ aus. Seinem „Schulwerk“ (seit 1930) liegt die These von der Parallelität musikalischer Onto- und Phylogenese zugrunde. Weltmusik vermittelt dabei zwischen kindlicher Entwicklung und der Entwicklung von Weltkulturen. Die Weltkulturen, vor allem die Musiken der „Naturvölker“, zeigen, so die verbreitete Vorstellung, gleichzeitig verschiedene Stadien einer Phylogenese der Kultur. Interkulturelle Studien führen 1936–1938 Carl Gustav Jung zur Ausformulierung seiner Archetypenlehre.

1973 taucht der Begriff „Weltmusik“ erneut auf – bezeichnenderweise in einem Schulbuch (PÜTZ 1975) und in der Zeitschrift „Musik und Bildung“ (STOCKHAUSEN 1974). Der Autor Karlheinz Stockhausen möchte der „höchsten Verpflichtung in unserer Zeit [ist], so viele musikalische Formen und Aufführungsstile zu konservieren, wie überhaupt möglich“, nachkommen. Er möchte der Gefahr, dass sich alle Weltkulturen bis zur Unkenntlichkeit vermischen, durch „bewusst geformte Individualstile“, die aus „Kreuzungen der merkwürdigsten Einflüsse aller historischen und frei erfundenen Möglichkeiten gebildet werden“, begegnen (exemplarisch in seiner „Telemusik“, den „Hymnen“, „Kurzwellen“, „Mantra“ oder – Weltmusik im bereits kosmischen Sinne – „Stimmung“). Der quasi ökologische Gedanke von dem Erhalt der Artenvielfalt von Musik ist nicht neu. 1905 hatte ihn der Musikethnologe Erich Moritz von Hornbostel formuliert: „Wir müssen retten, was zu retten ist, noch ehe zum Automobil und zur elektrischen Schnellbahn das lenkbare Luftschiff hinzugekommen ist, und ehe wir in ganz Afrika Tararabum-diäh und in der Südsee das schöne Lied vom kleinen Kohn hören“ (HORNBOSTEL 1905/86, 57).

Im Gegensatz zu den Musikethnologen Hornbostel und Sachs oder – in jüngster Zeit – dem Projekt „Safeguarding of Oral Traditions“ der UNESCO 1991 (BAUMANN 1992, 12–15) formuliert Stockhausen sein „Weltmusik“-Konzept als kompositorisches und pädagogisches Programm. Die fortgeschrittenste – elektronische – Avantgardemusik bereite die Möglichkeit, jenen neuen Weltstil hervorzubringen. Die Musikpädagogik habe die Aufgabe, den Jugendlichen die Ohren für neue Klänge zu öffnen, sprich „auditive Wahrnehmungserziehung“ zu betreiben. Die Hauptakteure dieses Programms, Rudolf Frisius und Ulrich Günther, verfassen konsequenterweise für den Musikunterricht an Gesamtschulen eine Unterrichtseinheit über Stockhausens „Hymnen“ (FRISIUS/GÜNTHER 1971).

Zugleich finden sich zwischen 1970 und 1979 in erstaunlicher Dichte Aufsätze zur außereuropäischen Musik in „Musik und Bildung“. Autoren sind bis auf Siegmund Helms (HELMS 1974) Musikethnologen (Kuckertz, Schaffrath, Daniléou, Nketia, Lade), die sich mit „authentischer“ Musik eines eng umrissenen Kulturraumes beschäftigen. Die Autoren ziehen aus dem von Stockhausen formulierten Ziel, die musikalische Artenvielfalt der Welt zu retten, eine alternative Konsequenz: nicht die „Kreuzung merkwürdiger Einflüsse“, sondern die ehrfürchtige Zurkenntnisnahme des „Merkwürdigen“ ist das Ziel dieses Musikunterrichts.

Mit solcherart Ehrfurcht ist es vorbei, als die Kinder von Gastarbeitern in deutsche Schulen dringen. Das „merkwürdig Ferne“ sitzt mitten unter uns! Irmgard Merkt zieht 1983, neun Jahre nach dem Anwerbestopp und dem Ende des Gastarbeiterprogramms, als Erste musikpädagogische Konsequenzen und stellt ein Programm für kulturelle Verständigung durch Musik auf (MERKT 1983). Sie geht einerseits wie die Musikethnologen der 70er Jahre davon aus, dass sich in deutschen Klassenzimmern zwei oder mehrere, einander fremde Kulturen gegenüber stehen. Gleichzeitig jedoch geht sie mit ihrem später als „Schnittstellenansatz“ bezeichneten Konzept des „Gemeinsamen“ auch auf Archetypisches zurück (MERKT 1993). Eine Schnittstelle ist jener „Ort“, an dem sich unterschiedliche Kulturen musizierend begegnen können. Und Schnittstellen kann es nur geben, wenn es archetypische musikalische Phänomene gibt, die in den 90er Jahren auch als „transkulturell“ bezeichnet werden (BARTH 2000).

tarantella2

Aktuelle Situation

Die interkulturelle musikalische Kommunikation, die im Gefolge Irmgard Merkts 15 Jahre hindurch das heilige Ziel der interkulturellen Musikerziehung gewesen ist, geht davon aus, dass in den Schulklassen monokulturell sozialisierte Individuen fremd, unwissend und vorurteilsbeladen einander gegenübertreten. Die logische Folge ist, dass die musikalische Kommunikation Brücken schlagen, Wissen über das Fremde vermitteln und Vorurteile abbauen soll. Im Laufe der 90er Jahre bemerken Musikpädagoginnen und -pädagogen jedoch, dass diese Voraussetzungen nicht mehr überall gegeben sind. Folgende Faktoren bestimmen das neue Koordinatensystem interkultureller Musikerziehung (vgl. allgemein AUERNHEIMER 2003, musikspezifisch STROH 2002):

1.  In immer neuen Wellen kommen neuartige ethnische Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen in die deutschen Schulklassen: Boatpeople aus Vietnam, die durch ihr Schweigen glänzen, Aussiedlerkinder, die deutscher als deutsch sein wollen ohne die Sprache zu können, die dritte Türkengeneration mit ihren vorlaut-frechen Klein-Machos, von Kriegserlebnissen traumatisierte Kinder aus den Krisenregionen der Welt usw. Die kulturelle Identität der Kinder ist brüchig und im herkömmlichen Sinne von „Liedern aus der Heimat“ nicht mehr erkennbar.

2.  Der Schock der 90er Jahre über Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, der auch kaum mehr ethnische Grenzen kennt – Stichwort: Türken gegen Russen! –, lässt es notwendig erscheinen, die Ziele interkultureller Musikerziehung für alle Kinder und Jugendliche und nicht nur für solche aus ethnisch gemischten Klassen zu formulieren. Antirassistische und interkulturelle Erziehung konvergieren, an den Musikunterricht ergeht ein politisches Mandat.

3.  Im Zuge der Herausbildung einer multikulturellen Gesellschaft, d. h. eines Nebeneinanders unterschiedlicher Kulturen, die sich nicht mehr defizitär einer Leitkultur unterordnen wollen und lassen, entstehen „multikulturelle Persönlichkeiten“. Der klassische Identitätsbegriff wird als „Konstrukt“ entlarvt und durch die Vorstellung von „Patchwork-Identitäten“ ersetzt. Identität scheint als „ein Komplex von Rekonstruktionen und als etwas, das immer neu ausgehandelt werden muss“ (AUERNHEIMER 2003, 69; KEUPP 1999). Folglich ist die Vorstellung, dass in der Schule „fertige“ fremde Identitäten einander gegenübertreten, hinfällig. Schule wird vielmehr zu einem Ort, an dem – wie auch außerhalb der Schule – Identitäten „ausgehandelt“ werden.

4.  Das Ziel der interkulturellen Musikerziehung wird somit nicht mehr nur in der Fähigkeit gesehen, interkulturell kommunizieren zu können, sondern in der Fähigkeit jedes Einzelnen, bewusst, selbstbestimmt, aktiv und sozial verträglich zu „verhandeln“. Konkret bedeutet das, dass die Kinder und Jugendlichen lernen sollen, im Supermarkt der musikalischen Beliebigkeiten sich bewusst, selbstbestimmt, aktiv und sozial verträglich das für sie jeweils Richtige auswählen zu können (STROH 2002).

5.  Die „Globalisierung der Musikkulturen“ und ein neuartiger Begriff von Weltmusik – exemplarisch umrissen im „Rough Guide World Music“, der 2000 sogar ins Deutsche übersetzt wurde (Broughton 2000) –, die Einführung von Radiostationen wie „Funkhaus Europa“ bzw. „Radio Multikulti“ sowie die zunehmende Verbreitung von multiethnischer Musik „made in Germany“ (afrodeutscher Rap, deutschtürkischer „Oriental HipHop“, „Russendisko“) haben selbst bei skeptischen Musikpädagoginnen und -pädagogen ein Interesse an hybriden Stilen, Mischformen, Fusionen – kurz: an Weltmusik – hervorgerufen. Es ist heute leichter als vor 10 Jahren, sowohl an die Hörgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen anzuknüpfen als auch außereuropäische Musik und Stilistiken zu vermitteln, die nicht dem musikindustriellen Standard entsprechen.

6.  Die deutsche Musikethnologie orientiert sich gezwungenermaßen (GREVE 2003) im Sinne der „cultural studies“ um. Gegenstand dieser neuen Musikethnologie ist nicht mehr außereuropäische Musik als musikalisches Phänomen, sondern die gesamte Kultur, aus der die jeweilige Musik hervorgegangen ist und die sie widerspiegelt. In den USA wird „Music of the Worlds“ seit Mitte der 90er Jahre in diesem Sinne an den Musiklehrerausbildungsstätten obligatorisch unterrichtet (TITON 1996). Und während in Deutschland beispielsweise die einschlägigen Hefte der Reihe „Musik aktuell. Analysen, Beispiele, Kommentare“ (Kassel 1981–1985) oder die Reihe „Musikbogen. Wege zum Verständnis fremder Musikkulturen“ (Wilhelmshaven 1990–1992) sich auf die jeweilige authentische Musik bezogen, versuchen die seit 2002 erscheinenden Hefte der Reihe „Musik der Welt“ (Oldershausen 2002 ff.) den gesamten Kontext einer Musikkultur zu erfassen.

Die Tatsache, dass sich die Voraussetzungen des herkömmlichen Konzepts der interkulturellen musikalischen Kommunikation aufgelöst haben, haben entweder zu einer Neudefinition von „Kommunikation“ geführt (AUERNHEIMER 2003, 132-142) oder zum Versuch, die Bezeichnung „interkulturell“ durch „multikulturell“[1] oder „transkulturell“ zu ersetzen (SCHÜTZ 1998, BARTH 2000). Entscheidender als die Bezeichnungen jedoch sind die tatsächlichen Perspektivenwechsel, die sich auf Lehrerfortbildungsveranstaltungen und im Diskurs der musikpädagogischen Medien in den Jahren 2000-2004 herauskristallisieren:

1.  Die multikulturelle Lebenswelt: Interkulturelle Musikerziehung hat das vordringliche Ziel, auf ein Leben in der multikulturellen Bundesrepublik vorzubereiten, insbesondere zu bewusstem, aktivem, selbstbestimmtem und sozial verträglichem musikbezogenem Handeln zu befähigen Mit Worten von Volker Schütz (1997): „Vom Umgang mit dem Fremdem als Weg zum Eigenen“. Bezugspunkt ist nicht mehr die exotische Ferne, sondern die unmittelbare multikulturelle Lebenswelt in der Nähe. Die Kurzformel lautet: musikbezogene „multikulturelle Handlungskompetenz“.

2.  Politische Bildung für alle: Interkulturelle Musikerziehung ist für alle Kinder und Jugendlichen gut. Der konkret in einer Schulklasse bzw. Schule vorhandene Musikkulturenmix kann methodische Konsequenzen haben, beeinflusst aber nicht die grundlegenden Ziele, in denen diejenigen der antirassistischen Erziehung aufgehoben sind. Der Musikunterricht hat sich seines politischen Auftrags bewusst zu werden.

3.  Cultural Studies und World Music: Authentische außereuropäische Musik ist ein Spezialfall nicht nur aus deutscher Sicht, sondern auch in den jeweiligen Herkunftsländern. Dasselbe gilt für Kunst- und Volksmusik. Weltweit gibt es heute neue Formen populärer und auf die internationale Bühne strebender Musik, die weder ihre Herkunft noch ihr Streben nach internationaler Anerkennung verleugnet. Der schülerorientierte Musikunterricht nimmt gerade diese Musik zur Kenntnis.

4.  Konstruktion von Identität: Die Ziele interkultureller Musikerziehung sind nur noch ein spezifischer Aspekt eines allgemeinen Ziels von Musikerziehung und verschwinden als eigenes Konzept. Es ist zu erwarten, dass in ein oder zwei Jahrzehnten jede Art von Musikunterricht sich als interkulturell versteht. Es ist zu erwarten, dass der Musikunterricht zu einem Ort wird, an dem Kinder und Jugendliche ihre musikalischen Identitäten „aushandeln“ können. Da die außerschulische Welt den Kindern und Jugendlichen wenig kompetente Anleitung und Möglichkeit bietet, ihre musikalische Identität bewusst, aktiv, selbstbestimmt und sozial verträglich „auszuhandeln“, werden Schule und Musikunterricht zu Orten, an denen musikalische Identitäten, die sich nicht bewusst, passiv, fremdbestimmt oder sozial unverträglich herausgebildet haben, überprüft, re- und de-konstruiert werden können (Begriffssystem nach REICH 1997; siehe auch Jank/Meyer 2002, 295-297).

capoeira1

Konsequenzen

Der herkömmliche und in der handlungsorientierten interkulturellen Musikerziehung praktizierte Schnittstellenansatz von Irmgard Merkt (1993) sieht vor, dass – solide Sachkenntnis bei der Musiklehrkraft vorausgesetzt – die interkulturelle Arbeit mit gemeinsamen musikpraktischen Erlebnissen auf einer „kulturellen Schnittstelle“ erfolgt. Singend, tanzend, musizierend, klatschend oder spielend sollen Kinder und Jugendliche unterschiedlicher kultureller Herkunft etwas „Gemeinsames“, gleichsam Archetypisches erleben. In einem Programm in vier Schritten sollen diese Erlebnisse dann zu interkulturellen Erfahrungen verarbeitet werden: Kulturelle Unterschiede sollen erkannt und geklärt, besprochen und verstanden, auf höherer Ebene auch hörend nachvollzogen und angeeignet werden.

Das didaktische Konzept dieses Ansatzes ist das eines erfahrungsorientierten Unterrichts, in dem musikpraktische „Erlebnisse“ unter Anleitung einer Lehrkraft zu interkulturellen „Erfahrungen“ verarbeitet werden (SCHELLER 1981). Zudem setzt das Konzept voraus, dass die Gemeinsamkeiten nicht äußerlich, zufällig oder scheinbar, sondern essentiell und wesentlich sind, mit anderen Worten, dass in den Musiken unterschiedlicher Kulturen Archetypisches enthalten ist. Konkretisieren lässt sich ein Archetypus in „Reinform“ im Rhythmuskreis  Reinhard Flatischlers, in der Trance induzierenden Musiktherapie Wolfgang Strobels oder in schamanischen Tänzen des Techno. Meine These ist, dass derartige archetypische Grundschichten die Voraussetzung für interkulturelle Kommunikation und für Weltmusik sind (STROH 1997). Bei einer Schnittstelle der interkulturellen Musikerziehung wirkt der Archteypus im Hintergrund. Er produziert die Erlebnisse, die die Kinder und Jugendlichen auffangen und erfüllen.

Methodische Modelle für die interkulturelle Musikerziehung, die sowohl den Anspruch des erfahrungsorientierten Unterrichts als auch die archetypischen Schnittstellen-Erfahrungen garantieren, wurden mit „erweitertem Schnittstellenansatz“ und „musikalischen Basiserfahrungen“ bezeichnet. Beide sind Bestandteil des Konzepts „eine welt musik lehre“:

Der erweiterte Schnittstellenansatz geht von der Beobachtung aus, dass aufgrund der unerfüllbar hohen Erwartungen, die an Musiklehrkräfte in puncto interkulturelle Erziehung gestellt werden, in der Regel zwar „multikulturelle“ musikpraktische Erlebnisse inszeniert, diese Erlebnisse aber nicht zu interkulturellen Erfahrungen verarbeitet werden (STROH 2001). Dadurch verkommt der interkulturelle Musikunterricht zu einer exotisch-aktionistischen Veranstaltung, die allen Beteiligten Spaß macht, aber auch nicht mehr. „Spaß“ ohne den Zusatz, welche Inhalte Spaß machen, ist jedoch keine pädagogische Kategorie oder ein Ziel musikpädagogischen Handelns.

Im erweiterten Schnittstellenansatz werden die   musikpraktischen Erlebnisse durch (gleichzeitig stattfindende) szenische Interpretation verarbeitet. Die bei Irmgard Merkt auf die Musikpraxis folgenden und in der Regel von allen Beteiligten als eher frustrierend erlebten Verarbeitungsstufen werden spielend in das Singen, Tanzen und Musizieren integriert. Die Musik wird so „inszeniert“, wie sie im Sinne der „cultural studies“ im jeweiligen kulturellen Kontext verwendet wird. Brasilianische Capoeira beispielsweise wird nicht abstrakt als musikalischer Kampfsport mit Bewegungen, die trainiert werden müssen, einstudiert, sondern als realistisches Spiel: Sklaven praktizieren den verbotenen „Tanz“ in der Mittagspause auf einer Zuckerrohrplantage. Die „Magie“ der Capoeira-Bewegungen wird hier re-konstruiert noch bevor der formale Ablauf de-konstruiert wurde. Eine chilenische Cueca wird nicht von der Schrittfolge und dem triolischen Rhythmus her aufgeschlüsselt, sondern vom Inhalt des Tanzes her, also in Szene gesetzt, derzufolge ein Mann als stolzer Hahn um eine umworbene Frau herumtänzelt und sein Taschentuch schwingt.

Die Methoden der szenischen Interpretation (BRINKMANN 2002) erlauben die Verbindung von Erlebnis und Verarbeitung in einem einheitlichen Spielprozess. Sie garantieren, dass die Musikpraxis kein Selbstzweck wird. Sie betten die Musik in ihren kulturellen Kontext ein. Sie organisieren Musiklernen so, wie es im wirklichen Leben geschieht: analog, ganzheitlich, inhaltsbezogen. Selbst der Furcht von Musikethnologen, die Komplexität arabischer Maqams oder eines australischen Didgeridoo-Patterns würde durch den Schnittstellenansatz eurozentrisch pädagogisiert und „entwürdigt“, wird in der szenischen Interpretation begegnet. Sie ist als eine Re-Konstruktion kultureller Kontexte angelegt  und dadurch, wenn sie gelingt, dem Original oft näher als manch ein Konzert einer nach Deutschland eingeflogenen „authentischen“ Musikgruppe.

Die szenische Interpretation von Musik setzt eine Einfühlung voraus, die sowohl kulturell-inhaltlich im Rollenspiel – also gezielt verfremdet – als auch auf  dearchetypischen Ebene erfolgt. Die als „Warming-Up“ im handlungsorientierten Musikunterricht bekannte Phase wird zur „archetypischen Einfühlung“ verwendet. Hier werden in elementarisierten Übungen musikalische Basiserfahrungen vermittelt, die für die jeweiligen Kulturen tragend sind. Häufig ist dies ein Rhythmuskreis, es kann aber auch eine Klangmeditation, ein Musikritual, eine Phantasiereise, eine Atem- oder Stimmübung oder eine Bewegungsimprovisation sein. Zu all solchen Basiserfahrungen gibt es verstreut auf dem musikpädagogischen „Markt“ Anleitungen, allerdings selten unter der Bezeichnung „interkulturelle Musikerziehung“.

capoeira2

Aspekte der Musiklehrerausbildung 

Kinder und Jugendliche haben oft mehr Mut zu musikalischen Basiserfahrungen als ausgebildete Musiklehrer. Ängste, ein Warming-Up als musikalische Basiserfahrung sei musikalisch zu primitiv, würde von den Kindern und Jugendlichen nicht Ernst genommen,  gehe unverantwortlich tief ins Unterbewusste der Kinder und Jugendlichen oder sei schlicht unnützer Hokuspokus, sind oft eine Folge der musikalischen Sozialisation von Musiklehrern. Diese findet ja im Hinblick auf interkulturelle Musikerziehung nicht in den wenigen Universitätsveranstaltungen zu außereuropäischer Musik oder in Didaktikvorlesungen zur interkulturellen Musikerziehung, sondern im Alltag des Übens am Haupt- und Nebeninstrument, in der klassischen Musiktheorie und in der Historischen Musikwissenschaft statt.

Als „Gegengift“ gegen die Musiklehrersozialisation, welche durch ihr „hidden curriculum“ die Hinwendung zur erfahrungsbezogenen interkulturellen Musikerziehung behindert, habe ich eine >„eine welt musik lehre“ gefordert (STROH 2000). Dies ist keine Musiklehre im üblichen Sinne, sondern eine Art weltmusikalischer Propädeutik, ein System von in die Ausbildung integrierten musikalischen „Basiserfahrungen“ und eine angeleitete Auseinandersetzung mit musikalischen Archetypen. Es ist eine Entdeckung elementarer Dimensionen von Musik: des Klanges, der musikalischen Bewegung, des Energieflusses, des rhythmischen Urwissens, der Bewusstseinsveränderung, des Flow-Erlebens, der Transzendenz. Es ist auch eine Wiederentdeckung alltäglicher Erfahrungen mit Musik, die im Zuge der Professionalisierung verdrängt, vergessen oder tabuisiert werden. Es ist, modern gesprochen, der Versuch, die empirisch festgestellte linkshemisphärisch dominierte Musikverarbeitung von Musikern in ein „Hemisync“-Erlebnis zu verwandeln, bei der beide Gerhirnhälften miteinander in Wechselwirkung stehen. Vor der Frage, wie eine Musik „gemacht ist“, sollte – mit Worten Arnold Schönbergs – die Frage stehen, was sie „ist“.

Literatur

Bilder: