Informationen, Konzepte und Materialien zum Interkulturellen Musikunterricht

Texte

Carola Schormann (1996):

Aspekte und Formen didaktischen Handelns. Musikdidaktik und außereuropäische Musik: Der interkulturelle Imperativ

Aus: Reinhard C. Böhle (Hg.): Aspekte und Formen Interkultureller Musikerziehung. Beiträge vom 2. Symposium zur Interkulturellen Ästhetischen Erziehung an der HdK Berlin. Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt/Main 1996, S. 12-22. 

Wirft man einen Blick auf die offiziellen Verlautbarungen zur Kultur­politik der letzten Jahre, so wird in diesen immer betont, daß eine wich­tige Voraussetzung für das kulturelle Verständnis anderer Regionen ein Kulturaustausch ist, der sich gleichmäßig und möglichst gleichmäßig in andere Richtungen bewegt. Eine wichtige Voraussetzung für einen sol­chen Austausch ist die Annahme, daß alle Kulturen gleichwertig ne­beneinander stehen. So sollte es ein Prinzip der kulturellen Zusammen­arbeit zwischen den industriell entwickelten und den sogenannten Dritte-Welt-Ländern sein, daß Kulturaustausch nicht aus einseitigen Darbietungen besteht, sondern aus einem Austausch in partnerschaftli­cher Kooperation.

Wenn es eine gegenseitige Übereinkunft darüber gibt, daß „Kulturaus­tausch" keine „Einbahnstraße" ist, sondern immer Zusammenarbeit in partnerschaftlicher Form eines Gebens und Nehmens darstellt, dann können damit nicht nur kulturelle Verbindungen geknüpft, sondern gleichzeitig neue Impulse für beide Seiten gegeben werden, und gleich­zeitig kann dieses Gegenseitigkeitsprinzip Konsequenzen hinsichtlich des eigenen Kulturverständnisses nach sich ziehen (1). Überträgt man diesen Ansatz auf schulisches Lernen, so erfolgt dies in der Annahme, daß eine möglichst frühzeitige Begegnung mit fremden Kulturen Welt­verständnis und Weltverantwortung, Toleranz und Kooperationsfähig­keit einüben kann.

Im folgenden soll nun dargelegt werden, welche Möglichkeiten die Musikerziehung in diesem Rahmen schulischen Lernens hat, welche Grenzen ihr von verschiedenen Seiten gesetzt werden und welche me­thodischen Wege unter den gegebenen Umständen sinnvoll sein kön­nen.

Prämisse

Eine wichtige Voraussetzung für so etwas wie ein Gegenseitigkeits­prinzip ist die bereits erwähnte Annahme, daß alle auf der Welt existie­renden Kulturen gleichwertig nebeneinander stehen. Das wiederum be­deutet, daß wir diese anderen Kulturen nicht nur neben unserer eigenen Kultur leben und wirksam werden lassen, sondern auch ihren Wert an­erkennen.

Geht man von der Prämisse der Gleichwertigkeit aller Kulturen aus, so muß man sich nicht auf die Suche nach besonders „wertvollen" Kultu­ren machen, deren Musik dann in ein Curriculum aufgenommen wird, sondern dieser Aspekt der Auswahl entfällt. Auswahlkriterien für ganz bestimmte Kulturen hängen dann von den jeweiligen Lernzielen ab.

Ein anderer möglicher Weg besteht darin, als Ausgangshypothese zunächst einmal anzunehmen, daß alle Kulturen gleichwertig sind, um dann bei der Beschäftigung mit einer Kultur deren Wert oder Minder­wert zu beweisen. Diesem Verfahren sind allerdings Grenzen gesetzt. Eine Grenze bildet unsere eigene musikalische Sozialisation im beson­deren und unsere kulturelle Sozialisation im allgemeinen. Aufgrund dieser Tatsache haben wir einen unserer Kultur eigenen Blickwinkel der Wahrnehmung, der unseren Blick auf Fremdes einschränkt und es uns wahrnehmen läßt, so wie es unsere Kultur erlaubt (2).

Die symbolische Funktion der Musik vieler südamerikanischer Ethnen ist z.B. mit einer europäischen Vorstellung von Wahrnehmung und Wirklichkeit kaum zu verstehen (3).

Eine andere Musikkultur verstehen - das ist aber ein wichtiges Lernziel in der Musikpädagogik. Eine andere Musikkultur verstehen zu können, setzt eine Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen voraus. Und um das Lernziel des „Verstehens" anderer Kulturen rankt sich eine lange Debatte über Relativismus und Objektivismus, die hier nicht näher aufgegriffen werden soll.

Ziele 

Trotzdem möchte ich an diesem Lernziel des Verstehens festhalten und schlage vor, man möge den Charakter dieses Verstehens, das sich zu­sammensetzt aus musikalischer Erfahrung und Erkenntnis als eine Art Spannung, eine Art nicht ganz saubere, nicht ganz eindeutige Wirk­lichkeit betrachten und anerkennen können, und so das Verstehen als einen kommunikativen Prozeß betrachten (4).

Dieser Prozeßcharakterführt zu einem weiteren Lernziel, welches bein­haltet, daß die Schüler durch die Auseinandersetzung mit dem Ande­ren selbst eine Veränderung erfahren sollen. Sie sollen ihren Kriterien­katalog an Wertmaßstäben anhand ihrer Erfahrungen erweitern oder verändern können. Da aber die Maßstäbe, nach denen bewertet wird, die einer europäischen musikalischen Sozialisation sind, entsteht zunächst wieder das Problem des einseitigen Blickwinkels, welches aber durch die Hinzuziehung einer moralischen Kategorie entschärft werden kann.

Unter diesem moralischen Aspekt kann allerdings nur die Bereitschaft zu Offenheit und zur Erweiterung des eigenen Horizontes gefordert werden. Aufgabe interkulturellerErziehung ist aber nicht nur die För­derung derjenigen Anlagen im Menschen, die interkulturelles Verste­hen ermöglichen, sondern es geht darum, daß sich interkulturelles Fühlen, Denken und Handeln gegenseitig bedingen.

Rahmenbedingungen und das „hidden curriculum“

Auf den ersten Blick scheint es, als wäre die Notwendigkeit einer inter­kulturellen Erziehung in der BRD nie größer gewesen als im Augen­blick. Von den Schulen müssen die innenpolitischen Veränderungen, der Rechtsradikalismus, die wachsende Ausländerfeindlichkeit und der Fremdenhaß als eine Herausforderung gesehen werden, ihre Lerninhal­te und ihre Methoden neu zu überdenken. Der Musikunterricht ist hier als ein Fach unter vielen gefordert. Um die Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Musikerziehung einschätzen zu können, ist auch ein Blick auf den schulischen Gesamtrahmen notwendig.

Unsere Schulen sind nicht immer ein Raum, in dem Schüler leben oder Erfahrungen machen können. Die beängstigende Mischung aus Ge­walt, Gleichgültigkeit und Unzufriedenheit, die sich in unseren Schulen wiederfindet, zeigt, daß es scheinbar weder Eltern noch der Institution Schule gelingt, ein annehmbares Wertesystem zu vermitteln. Nun ist die Schule unsere größte kulturelle Veranstaltung, die junge Menschen in ihrem lernfähigsten und dadurch recht wertvollen Lebensabschnitt beschäftigt. Doch sie entläßt diese Menschen zwar reich an Erkenntnis­sen, aber arm an Erfahrungen, mit großen Erwartungen, aber unselb­ständig und ohne Orientierung (5).

Die Öffentlichkeit ist erschreckt über die Gewalt gegen jüdische Mit­bürger, gegen Obdachlose und Behinderte, erschreckt über brennende Asylantenheime. Das Schreckliche an den Verursachern ist nicht, daß sie so gar nicht den Vorstellungen von der Jugend entsprechen, die man gerne hätte - dynamisch, weltoffen und positiv - , sondern eigent­lich ist jedermann klar, daß diesem Verhalten ein Lernprozeß vorausging, der diese inneren Einstellungen, dieses Verhalten und bestimmte Lebensweisen zum Ergebnis hatte (6).

Eine längerfristige Lösung erfordert also auch eine Veränderung der Lebensweisen und inneren Einstellungen vor allem derjenigen, die Kinder und Jugendliche prägen. Kinder und Jugendliche sind auch ohne Verbalisierung in der Lage wahrzunehmen, was Erwachsene tun, worauf sie stolz sind oder wessen sie sich schämen, was sie für wertvoll erachten oder geringschätzen. Auch die deutsche Asylpolitik unter­stützt kaum das, was interkulturelle Erziehung leisten möchte. Durch die in Deutschland lange, intensiv und recht unehrlich geführte Debatte um die Asylpoli ti k wurde letztlich das eigentliche Problem der Armuts­immigration verdrängt. Formal wurden Fragen der Asylpolitik disku­tiert, die jedoch nur die Tatsache verdrängten, daß es aufgrund der ko­lonialen Vergangenheit Europas eine moralische Verpflichtung ge­genüber Flüchtlingen aus den Elendsgebieten der Erde gibt (7). Wenn unter dem Motto „Das Boot ist voll" doch ganz offensichtlichdie Be­reitschaft fehlt, die Perspektive der anderen Seite einzunehmen, könn­ten viele Verlautbarungen zum Kulturaustausch an Wert verlieren. Ebenso fällt es schwer, von Schülern diese Haltung - das Einnehmen eines anderen Blickwinkels - zu erwarten, wenn sie sich mit Fremdem beschäftigen.

Und es ist weiter zu fragen, wie glaubwürdig für Kinder und Jugendli­che eine Erwachsenenwelt sein kann, wenn z.B. in einer Grundschul­klasse ein in Deutschland geborener und aufgewachsener Türke neben einem deutschstämmigen Schüler aus Kasachstan sitzt, dessen Eltern ebenso wie er kaum deutsch sprechen oder verstehen, aber nachweisen konnten, daß sie deutscher Abstammung sind. Der letztere Schüler, welcher in Kasachstan aufgewachsen ist und dort eine völlig andere Sozialisation erfahren hat, wird problemlos deutscher Bürger. Der gleichaltrige in Deutschland aufgewachsene Türke erhält nicht ohne weiteres die Staatsbürgerrechte.

Es wurde bereits erwähnt, daß Kinder auch ohne Verbalisierung wahr­nehmen, was Erwachsene tun und wie sie Maßstäbe setzen. Solange diese beiden beschriebenen Schüler mit derart unterschiedlichen Zu­kunftsperspektiven zusammen im Klassenzimmer sitzen, muß man den Klassenkameraden zugestehen, daß sie das, was im täglichen Leben passiert, im Widerspruch stehend zu dem empfinden, was ihnen in der Schule als interkulturelle Erziehung angeboten wird.

Interkulturelle Erziehung hat es also schwer, von Kindern und Jugend­lichen ernst genommen zu werden, solange sich ihre Lernziele nicht mit der Lebenswelt der Kinder decken. Interkulturelle Musikerziehung wird also wenig fruchten, wenn sie sich auf Inhalte beschränkt, die ohne Bezug zur Lebenssituation der Schüler sind und an der gesell­schaftlichen Realität vorbeigehen:

Unter 80 Mio. Deutschen leben 6 Mio. Ausländer. Das entspricht 7,5% der Gesamtbevölkerung. Die Schule muß hier einen Weg finden, zu lehren, wie man Gerechtigkeit, Frieden und Vernunftwahren kann, und sie muß dabei mit einer doppelten Forderung fertig werden: der Er­möglichung der Beteiligung an Verantwortung - ohne Beschädigung des Selbstbewußtseins oder der Verschiedenheit der einzelnen Grup­pen. Hektische politische Reaktionen - allen voran die Bewahrung der Deutschen vor weiteren Asylanten - lösen das Problem absolut nicht.

Was also kann die Musikerziehung tun?

Interkulturelle Musikerziehung muß in erster Linie ein Raum für Erfah­rungen sein. Und in der Schule muß gesellschaftliche Wirklichkeit stattfinden. Viel wichtiger als Faktenwissen sind Verhaltensweisen und Vermögen wie Kooperationsfähigkeit, Improvisationsgabe, Toleranz, Selbständigkeit, Mut oder Urteilskraft. Übertragen auf eine interkulturelle Musikerziehung bedeutet das, daß diese ihre Schwerpunkte also anwendungsorientierter und weniger auf einer betrachtenden Ebene suchen muß.

Die genannten Verhaltensweisen müssen eine höhere Wertschätzung erfahren als das im Unterricht bislang der Fall ist. Das wird in der Pra­xis allerdings unter anderem auch durch unser System der Zensurenge­bung verunmöglicht, denn ohne Zweifel ist Faktenwissen einfacher zu bewerten als Verhaltensweisen. Aber zwischen Musikkulturen zu ver­mitteln erfordert Toleranz, und wird ermöglicht in erster Linie durch Erfahrung und erst in zweiter Linie durch kognitive Prozesse. Hinzu kommt, daß interkulturelle Erziehung keine Tradition hat und Konzep­tionen erst noch entwickelt werden müssen (8).

„Musik ist keine Weltsprache“ >

Im außerschulischen Bereich gibt es in Europa ein großes Interesse an außereuropäischer Musik, wobei die Motivationen, die dahinter stehen, sehr unterschiedliche sind. Hier kontrastiert eine ständig wachsende Begeisterung über die Möglichkeiten, den eigenen Körper, die Seele und den Intellekt mit den Nährstoffen anderer Kulturen zu stärken, mit der ständig abnehmenden Bereitschaft, die physische Anwesenheit der­jenigen, aus deren Kultur wir uns bedienen, zu tolerieren. Hier liegt si­cherlich eine ganz besondere Verantwortung der Musikpädagogik. Sie muß sich auch mit den New-Age-Ideologien auseinandersetzen, die in üblicher eurozentristischer Vereinnahmung die Musikkulturen aller Welten als lediglich verschiedene Varianten einer klingenden Ontolo­gie deuten. Hier wird suggeriert, daß uns im Grunde nichts auf der Welt wirklich fremd sei, und daß wir uns alles Fremde, was sich uns musikalisch zeigt, ohne weiteres aneignen und nutzbar machen kön­nen. Nichts kann der Musikpädagogik abträglicher sein, als in den Chor der One-World-Gesänge einzufallen. Denn Fremdes erkennen, bedeutet nicht, das Fremde als Variante des Eigenen zu erklären und zu verstehen versuchen, sondern dem Fremden, in diesem Falle der Musik, das Recht auf Andersartigkeit zuzubilligen.

Der Begriff„Musik" muß auch für jede Kultur eigens definiert werden. Ein Analogieschluß von europäischen Musikvorstellungen, Hörweisen und Regelsystemen auf andere Musikkulturen ist deshalb ebensowenig möglich wie der Versuch eines naiv-empathischen Verstehens fremder Musik. Das ist am Beispiel karibischer Musik leicht zu verdeutlichen. Viele Europäer verspüren auch eine gewisse Affinität zu dieser Musik. Erklärt man „affinitivesVerstehen" als ein Verstehen, bei dem das Mo­ment der Entferntheit im Bezug zum Fremden übersehen oder einfach übersprungen wird, dann fühlt man sich sozusagen „angesprochen", karibische Musik findet eine Resonanz, die es einem ermöglicht, diese Musik scheinbar nahtlos an seine eigene Vorstellungswelt anzu­schließen. So fühlt man sich irgendwie „nahe", ist aber vom Verständ­nis der Musik noch recht weit entfernt. Spontane Einfühlung führt häu­fig auch zu musikalischen Mißverständnissen: oft wird die Musik nach europäischem Vorbild in ein Taktschema zurechtgehört.

Musik wird häufig als eine Kunstform betrachtet, die Grenzen über­schreitet und politische sowie sprachliche Barrieren überwinden kann: Musik kennt keine Grenzen. Dem sei jedoch entschieden widerspro­chen. Musik ist keine internationale Sprache, die jedermann in jedem Teil der Erde versteht. Sie besteht vielmehraus einer ganzen Reihe von gleichwertigen logischen, aber verschiedenartigen Systemen. Aus diesem Grunde sind dem methodischen Ansatz des Vergleichs in der Schule Grenzen gesetzt. Er ist sicherlich brauchbar, um z.B. kulturge­schichtliche Gemeinsamkeiten innerhalb Europas zu erarbeiten. Aber es gibt viele Bereiche, in denen ein vergleichender Ansatz nicht viel weiterhilft. Deshalb ist es wichtig, sich von der Vorstellung zu lösen, die unterrichtliche Behandlung interkultureller Inhalte in ein didakti­sches Schema pressen zu können. Zwar neigen wir Europäer dazu, für alles die richtige Schublade zu suchen und fühlen uns erst richtig wohl, wenn alles systematisiert ist, aber offenbar gibt es hierfür keine passen­de Schublade. Das sich auf den ersten Blick anbietende handlungsori­entierte Modell birgt die große Gefahr in sich, daß der Unterricht zu einer bloßen Imitation fremder Kulturen verflacht. Das bloße Nachsin­gen, Nachtanzen oder Nachspielen hat aber nichts mit dem Verständnis fremder Kulturen zu tun, denn Musikerziehung hat andere Ziele als eine Folkloregruppe. Wenn die Beschäftigung mit der Musik anderer Kulturen zu einem Verständnis dieser anderen führen soll, muß sie auch mehr sein als ein kleiner Kultursnack, der - in allen musikali­schen Geschmacksrichtungen angeboten - jederzeit momentane Be­dürfnisse befriedigt. Auch beim Modell der didaktischen Interpretation liegen die Tücken schon sehr schnell offen. Wenn man, wie allgemein üblich, „Fremderfahrung“ mit metaphorischen Ausdrücken wie „Hori­zonterweiterung" charakterisiert, dann wird schon durch den Begriff „Horizont" klar, daß es keinen Standortwechsel des Betrachters gibt. Bei der Beschäftigung mit fremder Musik stellt sich aber eine doppelte Aufgabe: auf der einen Seite muß der Gegenstand „Musik" von der fremden Kultur her gesehen werden, auf der anderen Seite aber auch von der eigenen Kultur her.

„Es ist also eine Verbindung von Kontexten herzustellen, die von Hause aus wenig miteinanderzu tun haben. Der an sich schon fragwür­dige Begriff Horizontverschmelzung hilft uns nicht weiter, denn nach Gadamer verschmelzen Horizonte eben deshalb, weil sie im Überliefe­rungsgeschehen vorgängig miteinander verbunden sind" (9). >

Es ist also schwierig, eine grundsätzliche, immer passende didaktische Schublade zu finden. Bei der Entwicklung einer didaktischen Konzep­tion, die auch sozialwissenschaftliche wie sozialanthropologische Aspekte mit einbezieht, gilt es außerdem zum einen zu berücksichti­gen, für welche Schulstufe ein Thema aufbereitet werden soll, und zum anderen gilt es didaktisch anders vorzugehen, je nach dem, ob die Musikkultur eines Mitschülers unterrichtlich thematisiert werden soll oder ob in eine fremde Musikkultur eingeführt werden soll, deren Mitglieder in der Lerngruppe nicht „persönlich" vertreten sind.

Erfahrungslernen, Lernziele 

Ein Student, der Musiklehrer werden möchte, braucht, wenn er inter­kulturelle Dimensionen in seinen Unterricht mit einfließen lassen soll, die Möglichkeit, neue musikalische Erfahrungen aus anderen Kulturen zu machen. Ein Lehrer, der selbst in seiner Ausbildung Erfahrungen gemacht hat, ist eher in der Lage, Strategien zu entwickeln, die seinen Schülern Erfahrungen ermöglichen, als ein Lehrer, dessen Beschäfti­gung mit anderen Musikkulturen lediglich von kognitiver Art war. Damit ist nicht gemeint, daß ein Zugang zur Musik anderer Kulturen ausschließlich über die musikalische Praxis möglich ist, denn alle Mu­sikkulturen kennen Produzenten und Rezipienten. Es erscheint sinnvol­ler, die Methodenwahl oder auch den Spannungsbogen zwischen Theorie und Praxis von der jeweiligen Musikkultur und von den spezi­fischen Lernzielen abhängig zu machen.

Natürlich ließe sich eine lange Liste von Lernzielen aufstellen, die den Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß beschreiben. Es seien hier nur eini­ge übergeordnete Lernziele genannt, um den Gesamtzusammenhang zu verdeutlichen.

Die Schüler sollen

Vor dem Hintergrund dieser Lernziele gewinnt die Auswahl der Me­thode eine besondere Bedeutung. Die Beschäftigung mit einer Kultur, die neben den Elementen des Fremden auch Bekanntes europäischen Ursprungs enthält, als Beispiel sei an viele Kulturen Lateinamerikas er­innert, kann methodisch anders angegangen werden als z.B. die Be­schäftigung mit westafrikanischen Musikkulturen. In den Bereich der Methodenwahl gehört im Rahmen der Instrumental- und Gesangs­pädagogik auch die Beschäftigung mit den Lehrmethoden anderer Kulturen. Viele Kulturen kennen neben völlig anders gearteten Lehrer­-Schüler-Verhältnissen z.B. in der Instrumentalpädagogik keine Übungsstücke, sondern nur das „wirkliche" Repertoire. Hier gibt es kein pädagogisches Repertoire, keine Etüden, die nicht zur normalen Rezeption von Musik gehören. Das wiederum stellt ganz andere me­thodische Anforderungen an den Lehrer. Häufig wird die Musik unter Verzicht auf Notation gelehrt, und es ist nicht üblich, daß ein Lehrer die Fehler seines Schülers verbalisiert oder überhaupt verbal erklärt, wie etwas zu spielen sei, sondern er macht es lediglich vor. Hier ist zu fragen, ob dieser Lehrer in unseren Augen ein schlechterer Lehrer ist, als derjenige, der Fehler nicht nur erkennt, sondern diese beschreibt.

Motivation

Ausgehend von der schulischen Praxis scheint auch eine andere Frage wichtig zu sein wie diejenige der Methodenwahl, nämlich die des Ein­stiegs in ein Thema, welches für Schüler nicht immer gleich auf den er­sten Blick von Interesse ist. Hier sei zur Verdeutlichung ein konkretes Beispiel gewählt.

Stellt man sich einen l 5jährigen Jugendlichen aus den neuen Bundes­ländern vor, dessen Eltern arbeitslos sind, und der vor einigen Jahren in seiner frühen Jugend den völligen Zusammenbruch des sozialen Wer­tesystems, mit dem er aufgewachsen ist, also eines Teils seiner Kultur, erleben mußte. Durch die Arbeitslosigkeitder Eltern ist neben der ge­sellschaftlichen Situation auch das familiäre Gleichgewicht ins Wanken geraten. Seine eigene Zukunftsperspektive ist geprägt von der Sorge, überhaupt einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz zu erhalten. Das ist also seine momentane Lebenswirklichkeit, die er mit in die Schule bringt. Nun betritt der Musiklehrer den Klassenraum und be­ginnt seinen Unterricht mit der Ankündigung: „Heute wollen wir uns mit der Musik in den südamerikanischen Anden beschäftigen!" Eine solche „Motivationsphase" wird eher das Gegenteil von dem erzeugen, was eigentlich beabsichtigt ist. Wie ist es also zu schaffen, Kinder und Jugendliche für Welten, die auf den ersten Blick so weit entfernt von ihrer eigenen Lebenswelt und ihren alltäglichen Problemen liegen, zu interessieren? Welche Möglichkeiten gibt es, bei jugendlichen Schülern, die nicht mehr so offen und neugierig wie Grundschulkinder auf alles Neue reagieren, die Bereitschaft zu erzeugen, sich auf Unbe­kanntes einzulassen, auf etwas, was keinen Bezug zu ihrem täglichen Leben zu haben scheint, was einfach fremd und anders ist? Hier scheint der einzig mögliche methodische Weg der zu sein, Gemeinsamkeiten zu suchen. Diese Gemeinsamkeiten müssen nicht musikali­scher Art sein und auch nicht übergeordneter kulturellerArt. Es geht nicht darum, eine musikalische oder kulturelle Schnittstelle zu finden, was letztlich wieder methodisch auf einen Vergleich hinausliefe, son­dern vielmehr darum, als Einstieg etwas zu wählen, in dem, um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben, Jugendliche sich und ihre Probleme in irgendeiner Form wiederentdecken können. Hier bieten sich auch Ele­mente jugendlicher Subkulturen an. Bezogen auf das genannte Bei­spiel könnte das im andinen Raum ein Chicha-Stück sein.

Chicha ist die Rockmusik der Jugendlichen unter den Landflüchtigen in den Städten Perus, die vor allem in den Barackensiedlungen an den Stadträndern leben. In der Musik, die musikalisch aus einer Mischung aus Elementen der Rockmusik und traditionellen andinen Formen wie Huayno und Cumbia besteht, - aber auch in den Texten - spiegelt sich deutlich die Suche nach einer eigenen Identität wider (l0).

Durch einen solchen Anknüpfungspunkt, der Schüler etwas finden läßt, wo sie sich selbst und ihre Probleme wiederentdecken können, kann die Bereitschaft entstehen, mehr über eine andere Musikkultur erfahren zu wollen. Übertragen auf das Beispiel der Andenregion kann also über die rezipierende oder eigenproduktive Beschäftigung mit Chicha die Bereitschaft erzeugt werden, sich auf diese Musik einzulassen und damit auch etwas über deren musikalische Herkunft, über die traditio­nellen andinen Musikkulturen zu erfahren. Natürlich wird es nach einem solchen methodischen „Aufhänger" neben dem Erkennen von Eigenem auch vieles Fremde zu erkennen geben. Und es ist klar, daß es zwischen Eigenem und Fremdem viele Reibungspunkte gibt, die nicht nur ein kulturpolitisches Potential darstellen, sondern auch didak­tisch aufbereitet werden müssen.

Anmerkungen (beziehen sich auf Zahlen in runden Kalmmern im Text)

1 vgl. dazu Witte, Barthold C.: Kulturaustausch als Zweibahnstraße. In: Zeit­schrift für Kulturaustausch 39 (2), 1989, S. 131-135.

2 vgl. dazu Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerken­nung. Frankfurt 1993, S. 62 ff. Die amerikanische Originalausgabe erschien mit dem Titel „Multiculturalism and The Politics of Recognition` " bei der Princeton University Press. Princeton 1992. 

3 vgl. Olsen, Dale A.: Symbol and Function in South American Indian Music. In: Music of Many Cultures. Ed. E. May, Berkeley and Los Angeles 1980, S.363-385.

4 Zur Frage nach der Möglichkeit und nach der Legitimität der Beschreibung fremder Kulturen durch die modernen Sozialwissenschaften sei hingewiesen auf Guell, Pedro E.: Das Spiel mit dem Spiegel. In: Kea, Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 2,1991, S. 7-14.

5 vgl. dazu das Vorwort in Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken - eine Übung in der praktischen Vernunft. Eine zornige, aber nicht eifernde, eine radikale, aber nicht utopische Antwort auf Hoyerswerda und Mölln, Rostock und Solingen. München und Wien 1993.

6 Hentig, a.a.0.: S. 12ff.

7 vgl. dazu Habermas, Jürgen: Anerkennungskämpfe im deutschen Rechts­staat. Nachwort zur deutschen Ausgabe von Taylor, Charles: a.a.O., S. 185 ff.

8 Einen Vorschlag macht Merkt, Irmgard: Interkulturelle Musikerziehung, in: Musik und Unterricht 22, 1993, S. 4-7.

9 vgl. Scheiffele, Eberhard: Affinität und Abhebung. Zum Problem der Voraussetzungen interkulturellen Verstehens. In: Wierlacher, A. (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München 1985, S. 29. vgl. dazu auch Rodi, Frithjof: Die Rolle der Pädagogik im Prozeß der „Verständigung über Verstandenes". In: Vierteljahresschrift für Wissen­schaftliche Pädagogik 4, 1985, S. 444-458; sowie Rodi, F.: Das Nahe­bringen von Überlieferungen. Über die kulturellen Lebensbezüge der „Vertrautheit" und „Fremdheit". In: Philosophisch-Theologische Grenzfra­gen, FS Richard Schaeffler, Essen 1986.

10 vgl. dazu Lengwinat, Katrin und Jose Zapata: Chicha - Identität von Land­flüchtigen in Peru. In: Bröcker, Marianne (Hrsg.): Berichte aus dem ICTM-Nationalkomitee Deutschland II, Bamberg 1993, S. 7-15; sowie Bullen, Margaret: Chicha in the Shanty Towns of Arequipa, Peru. In: Po­pular Music 12/3, 1993, S. 229-244.