Law & Order und "Integration statt Multikulti"

Reflexionen zur Situation seit 2000 - 2010

Im Jahre 2000 wurde das Staatszugehörigkeitsgesetz verabschiedet, das die Reichsverordnung von 1913 ablöste. Von nun an war ein in Deutschland geborenes Kind bis zu seinem 18. Lebensjahr deutsch („jus soli“), erst danach musste es sich für eine Nationalität entscheiden, weil in Deutschland Doppelte Staatsbürgerschaft möglichst vermieden wird. 2005 wurde nach 5-jährigem parlamentarischen Hin und Her ein Gesetz, das die Chaosphase der deutschen Migrationspolitik beenden sollte, mit dem Pseudonym „Zuwanderungsgesetz“ verabschiedet. Das Wort „Einwanderung“ wurde tunlichst vermieden. Nur auf der englischsprachigen Regierungs-Homepage heißt es „Immigrant Act“. Das Gesetz stellt den Begriff „Integration“ in den Vordergrund und erklärt damit das Ende aller Visionen einer multikulturellen Bundesrepublik. Im selben Jahre wurde der Mikrozensus derart umgestellt, dass nunmehr anstelle von Ausländern, von denen es 7 Millionen gab, Personen „mit Migrationshintergrund“, von denen es 15 Millionen gab, erfasst wurden. Migrationshintergrund hat eine in Deutschland lebende Person, wenn eines der Eltern Ausländer ist oder im Ausland geboren wurde. Damit ist die zweite und dritte Gastarbeitergeneration ebenso erfasst wie die Menge der Aussiedler, auch wenn diese Personen einen deutschen Pass besitzen.


Im Jahre 2006 gab die neue Regierung die Parole aus, die Integration sei in Deutschland gescheitert, im Klartext: Deutschland sei zwar multikulturell, doch das solle „eigentlich“ nicht so sein. Im Juli 2007 verabschiedete die Regierung das „Bundesweite Integrationsprogramm“ auf der Basis der Vorgaben des Zuwanderungsgesetzes 2005. Rita Süssmuth formulierte den Abschlussbericht ihrer Tätigkeit als UN- und BRD-Ausländerbeauftragte „Migration und Integration. Testfall für unsere Gesellschaft“ (2006).  Als Schlüssel der Integration wird die Beherrschung der deutschen Sprache angesehen und festgelegt. Nur dies garantiere eine echte Chance im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Integration wird verstanden als das Leben in einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft nach deutschen Verkehrs- und Spielregeln. Individuelle Kulturen dürfen in diesem liberalisierten „Markt“ ausgelebt werden durch einen „Karneval der Kulturen“, durch monokulturelle Vereine und Supermärkte, durch Diskotheken und Plattenläden. Wer aber seine „Chance“ in Deutschland wirklich wahrnehmen will, sollte sein wie ein Deutscher ohne Migrationshintergrund.


Für die Musikpädagogik bedeutete dies, dass ihre „Vision“ einer interkulturellen musikalischen Kommunikation oder einer multikulturellen musikbezogenen Handlungskompetenz nicht mehr zum Kernanliegen der Regierungspolitik zählten.  Musik war nur noch als Mittel der sozialen Integration gefordert. Dies sollte nicht wie noch bei Irmgard Merkt dadurch geschehen, dass nach dem Passieren einer musikalischen Schnittstelle auch kulturelle Differenzen herausgearbeitet wurden . Es genügte vielmehr das pure Musizieren ganz nach Theodor W. Adornos Wort „dass einer fiedelt soll wichtiger sein als was er geigt“. Die Ergebnisse von PISA 2000, 2003 und 2006 haben die Musikpädagogik in diesem neo-musischen Vorhaben in dreifacher Weise bestärkt:


(1) Als Folge von PISA legte die Schulbürokratie im Einvernehmen mit den Eltern verstärkt Wert auf die Förderung der hard skills. Die soft skills inklusive Musik mussten sich nunmehr neu positionieren und legitimieren. Sie taten dies mit der Erforschung von Transfer-Effekten des Musizierens. Nach Hans Günther Bastian macht Musizieren zwar nicht gerade intelligenter, aber doch sozialer. Was da musiziert wird, spielt keine Rolle, wie Roland Hafen (2000) im Abschlussbericht der Berliner „Bastian-Studie“ klar sagt. Eine kleine Befragung von Musiklehrern, die Marcus Spengler 2003  im Oldenburger Raum durchgeführt hat, hat ergeben, dass die Transfer-Argumente und populären Ergebnisse der Bastianstudie nicht einmal das Ansehen des Faches Musik innerhalb der Schule gestärkt haben. Letzteres hängt, so die Meinung der Befragten,  nach wie vor von einem „überzeugenden Musikunterricht“ und spektakulären Dienstleistungen des Musiklehrers für die PR der Schule ab.
(2) PISA hat auch ergeben, dass in keinem anderen OECD-Land die Bildungschancen mehr vom sozialen Status und Einkommen der Eltern abhängen als in Deutschland. Das betraf selbstverständlich auch die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Und in jüngster Zeit wurde festgestellt, dass vor allem die deutsch-türkischen Jugendlichen schlecht aufgestellt sind, während die anderen Migrantengruppen besser dastehen. In zahlreichen Untersuchungen ist immer wieder herausgearbeitet worden, dass das Beherrschen der deutschen Sprache der Schlüssel zur Wahrnehmung von Bildungschancen ist. Und damit stand wiederum der neo-musische Musikunterricht an der Wand. Vereinzelte Versuche den Spracherwerb musikalisch zu flankieren oder gar zu fördern konnten gegen das einfache Argument einer früh einsetzenden, intuitiven Sprachförderung in Kindertagesstätte und Kindergarten nicht ankommen. Konsequenterweise fordert die deutsch-türkische CDU-Ministerin für Soziales und Integration Aygül Özkan (2010), dass die Migranten-Eltern animiert werden müssten, ihre Kinder los zu lassen und in die Kita zu schicken, sofern es dort Plätze gibt.
(3) Trotz PISA fordern dennoch sehr viele Eltern und CDU-Politiker kurz vor den jeweiligen Landtagswahlen, dass „das Musische“ vor allem an den Grundschulen gefördert werden sollte.  Freilich sollte das derart Musische nicht zu Lasten der hard skills gehen, sollte möglichst „am Rande“ der Schule stattfinden und nicht viel kosten. Die Musikpädagogik hat sich zusammen mit der deutschen Musikindustrie dazu das Konzept „Jedem Kind ein Instrument“ ausgedacht : der Eltern-Unwille wird befriedigt, die Instrumentenhersteller stehen vor einer 100-Millionen-Investition, arbeitslose Orchestermusiker aus dem Osten und Billiglohnkräfte von den Städtischen Musikschulen können ihren Dienst tun und die Forderung nach Ganztagsschulen, die sich ebenfalls aus den PISA-Ergebnissen ergibt, kann aufgefangen werden. Multikulturelle musikbezogene Handlungskompetenz oder interkulturelle Kommunikation als Ziel sind hierbei nicht gefragt, auch wenn sozial-integrative Effekte nebenbei abfallen dürften, wenn Kinder mit unterschiedlichem Migrationshintergrund zusammen singen, spielen und tanzen. Als Ersatz für eine interkulturelle Musikerziehung kann aber neo-musischen Tun nicht stehen.


Das „Bundesweite Integrationsprogramm“ von 2007 sieht mehrere Schritte vor. Die beiden ersten werden derzeit realisiert, wie der Integrationsbericht 10/2009 ausweist, und stehen  auf zwei Säulen:
Die erste Säule des Integrationsprogrammes sind die Integrationskurse , die für gewisse Migrantengruppen obligatorisch sind. Es handelt sich dabei um Kurse mit 600 Einheiten Sprachunterricht und 45 Einheiten  „Basis Orientierung“. Diese Struktur spiegelt die Tatsache wider, dass unter Integration weitgehend die Beherrschung des Deutschen verstanden wird, aus dem sich alles Übrige dann ergeben soll. In der „Basis Orientierung“ wird das Grundgesetz und werden elementare Organe des Staates erläutert. Wenn aber Integration nicht einfach ein Pseudonym für den Versuch ist, die multikulturelle in eine sozial-integrierte Gesellschaft zu verwandeln,  dann müssten Integrationskurse erheblich mehr multikulturelle Handlungskompetenz vermitteln als es derzeit der Fall ist.


Bei solch einer Erweiterung der aktuellen Sprach-Integrationskurse zu Kursen multikultureller Handlungskompetenz kann Musik eine erheblich Rolle spielen. Christine Elstner hat dazu in den Sprachkursen für ausländische Studierende an der Universität Oldenburg einen ganz einfachen Weg erprobt, der Modellcharakter haben könnte: Kernidee für den Erwerb multikultureller Handlungskompetenz war, dass die Kursteilnehmer/innen ihre eigene Lerngruppe als eine kleine multikulturelle Gesellschaft erfahren und „handhaben“ lernen, d.h. lernen mit gegenseitigem Gewinn miteinander umzugehen. Der Weg dies Ziel zu erreichen ist ganz einfach: jede Teilnehmer/in stellt sich selbst und ihr Herkunftsland mit einem „charakteristischen“ Musikstück vor. Die Musik wurde teils von CD vorgespielt, teils live vorgesungen, gemeinsam gesungen oder getanzt. ­– Einen anderen Ansatz hat das Oldenburger Büro IBIS, das die offiziellen Integrationskurse durchführt, entwickelt. Es vermittelt interessierte Migrant/innen oder Asylbewerber/innen an Schulen als Expert/innen. Dies betrifft momentan überwiegend Personen aus Afrika, die mit Schüler/innen im Musikunterricht trommeln, singen und tanzen.
Für musikpädagogische Aktivitäten innerhalb der offiziellen Integrationskurse gibt es also durchaus Ansatzpunkte. Auf  Nachfrage teilte mir das Ministerium aber mit, dass es im Gegensatz zu „Sport“ weder Überlegungen in dieser Richtung noch staatlich unterstützte Modellversuche gäbe.
Die zweite Säule des „Bundesweiten Integrationsprogramms“ ist die Förderung von „Modellprojekten zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“, im Klartext:  die kostenlose Kooperation von Institutionen und Einrichtungen des deutschen Kulturlebens mit „Migrantenorganisationen“ . Das Phänomen der „Parallelgesellschaften“ lässt sich an kaum einer anderen Erscheinung deutlicher erkennen als an der Tatsache, dass zwischen Institutionen oder Organisationen unterschiedlicher Migrantenmilieus bzw. zwischen Institutionen der deutschen Kulturszene und Migrantenorganisationen auch bei gleicher Zielsetzung kaum eine Zusammenarbeit besteht. Für diesen Zustand gibt es zwei Ursachen:
Erstens erscheint das  organisierte Kulturleben der Migranten „amorph“, wie Martin Greve nach einer Analyse des Musiklebens der „imaginären Türkei“ feststellt . Zum Beispiel: Der Leiter des „Türkischen Musik-Konservatoriums Oldenburg“ formuliert als Ziel seiner Musikschule, den Kindern „ihre traditionelle Kultur zu erhalten und die Kinder von Kriminalität abzuhalten“. Obgleich der Schirmherr dieses Konservatoriums der Polizeipräsident der Stadt ist, erscheint dem „Konservatoriums“-Leiter eine Kooperation mit der Städtischen Musikschule als seinen Zielen abträglich. Und dies, obwohl die besten Geiger/innen seines „Türkischen Chors“ an ebendieser Städtischen Musikschule Unterricht nehmen, aber die türkische Intonation (Stichwort „Vierteltöne“) am „Konservatorium“ lernen.  
Kooperationen zwischen deutschen und türkischen Musikschulen ergeben sich daher, wenn überhaupt, zufällig.

So stellte Elmar Preußer von der Rheinischen Musikschule Köln fest, dass in einer Außenbezirksstelle im Untergeschoss der Deutsch-Türkische Kulturverein einen Bağlama-Kurs betrieb. Hieraus ergaben sich dann 1997/98 zwei „deutsch-türkische Projekte“ mit einem öffentlichen Abschlusskonzert. Über ein weiteres Problem der Migrantenorganisationen berichtet Martin Greve, der zusammen mit Dorit Klebe 1999/2000 eine Kooperation der Universität der Künste Berlin (UdK) mit dem „Konservatorium für Türkische Musik“ Berlin organisiert hat (Greve 2002). Der Leiter dieses „Konservatoriums“ gilt in Berlin zwar als hervorragender Musiker, aber innerhalb des türkischen Musiklebens in Berlin bedeutete die „Anerkennung“ dieser Einzelperson aufgrund der Kooperationsvereinbarung seines „Konservatoriums“ mit der UdK eine „innertürkische Wettbewerbsverzerrung“. Die Kooperation löste daher großen Unmut aus.
Zweitens scheinen deutsche Institutionen auf Migranten etwas Abstoßendes an sich  zu haben, wie es vice versa beispielsweise Islamische Vereine auf deutsche Christen haben dürften. Im Jahr 1999 haben Jochen Fried und Marianne Koch 64 der 80 niedersächsischen Musikschulen befragt, ob an ihrer Institution „Musik fremder Kulturen“ unterrichtet werde. Das Ergebnis der Befragung ergab, dass an 27% der Musikschulen „fremde Musik“ unterrichtet wird, überwiegend in Form von Sambagruppen. An „fremden Instrumenten“ wurden nur Panflöte, Balaleika und „Percussion“ genannt. Die Musik und Instrumente der traditionellen türkischen Musik (Saz/Bağlama, Darabuka, Zurna, Davul) gab es nicht. Im Anschluss an diese Untersuchung fand eine Diskussionsrunde interessierter Musikschulleiter statt. Die Leiter sagten, dass sie ganz offen für alles seien, nur würden die Türken sich eben lieber auf der Straße vor dem Musikschulgebäude herumtreiben als sich zu einem Unterricht anmelden. Ein kleiner Artikel über den Abschlussbericht des Forschungsprojekts, dessen Teil diese Befragung gewesen war, wurde vom Verband Deutscher Musikschulen (vdm) mit der Bemerkung, dass die Untersuchung ideologisch und die Ergebnisse diffamierend seien, nicht auf der vdm-Seite der nmz abgedruckt . Während 1999 der Deutsche Musikrat mitteilte, es gäbe keine Mitgliedsorganisation aus Migrantenkreisen, hat sich inzwischen das populärste deutsch-türkische Instrument, die Saz oder Bağlama, als Alternative bei einigen Landeswettbewerben von Jugend musiziert durchgesetzt. Und im Frühjahr 2010 erscheint ein regelrechtes Curriculum für den Saz-Unterricht an Musikschulen in Duisburg.


Sowohl die Integrationskurse, selbst wenn sie inhaltlich ausgeweitet würden,  als auch die einzelnen vom Bund geförderten oder ausgezeichneten „Kooperations-Modelle“ sind angesichts von 3,6 Millionen Schüler/innen mit Migrationshintergrund, darunter 0,9 Millionen Muslime, nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein sondern auch eine Arbeit im luftleeren Raum, wenn nicht die allgemein bildende Schule als „Stätte der Integration“ von der Migrationspolitik erkannt und gefördert wird. Kein noch so schönes Modellprojekt hat Bestand und Signalwirkung, wenn die breite Basis fehlt. Doch gerade hier mangelt es auf allen Seiten: Der Staat und die Politiker/innen fördern lieber medienwirksame „ehrenamtliche“ Einzelprojekte mit Preisen von bis zu 10 000 Euro, während der Bildungsetat prozentual immer weiter sinkt und an Grundschulen oft 75% des Musikunterrichts ausfällt. Eine Forderung aus dem Munde interkultureller Musikerzieher/innen müsste also lauten: Professioneller Musikunterricht und nicht Ersatzveranstaltungen im Spaß-Bereich, Musikunterricht, der nicht nur das Ziel sozialer Integration sondern der musikbezogenen multikulturellen Handlungskompetenz hat. Eine solche Forderung ist heute nicht zu hören.
Dies ist jedoch nur das kleinere Übel. Das größere Übel ist, dass die aktuelle Integrationspolitik eine Veränderung der multikulturellen Bundesrepublik anstrebt und berechtigte Zweifel bestehen, dass dies gelingt. Zum einen verkennt diese Politik die Chancen von Multikulturalität für eine Weiterentwicklung und Bereicherung des Landes und der Kultur der Gesellschaft. Sie sieht Globalisierung und Migration zwar als ökonomische und bevölkerungspolitische Chance an (Billiglohnarbeit, günstigere Alterspyramide, höhere Kindernachwuchsrate, Entlastung der Entwicklungshilfeausgaben durch die Rücküberweisungen usw.), die sich hieraus ergebende Multikultur aber als Problem. In der Tat ist, wenn man den aktuellen Zustand von Bildungssystem, öffentlichem Leben  und Arbeitsmarkt als unveränderbar annimmt, das Beherrschen der deutschen Sprache die notwendige Voraussetzung für die Wahrnehmung von Chancengleichheit in Deutschland. Aber niemand sagt, dass diese notwendige Voraussetzung auch hinreichend und dass der aktuelle Zustand nicht veränderbar und verbesserbar ist.

 

2011: Perspektiven und neue Visionen?

Die aktuelle „Migrationspädagogik“ betont angesichts der regierungsamtlichen Integrationspolitik, dass „eine zentrale Anforderung an das schulische Bildungssystem darin [besteht], den von Schüler/innen eingebrachten Besonderheiten zu entsprechen, ‚Anerkennung der Differenz‘ ist das Schlagwort, mit dem (Bildungs-) Gerechtigkeit ... gefordert und konzeptualisiert wird“,   und  „ansonsten würden jene benachteiligt, die nicht den Habitus aufweisen, auf den, weil er dominant ist, Bildungsinstitutionen in ihren Normalitätskonstruktionen bezogen sind“ (Mecherill 2010, S. 180 und 182). Eine Schule, die solcherart „Anerkennungs-Pädagogik“ praktiziert, würde auch dem entsprechen, was die deutsch-türkische Rechtsanwältin Seyran Ateş (2008) in ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“ skizziert. Sie sagt man solle es in der Schule als Reichtum begreifen, wenn Kinder „wenig oder keine Deutschkenntnisse, aber Türkisch, Kurdisch, Arabisch etc.“ (S. 244) mitbringen. Das Fremde solle „als bereichernde Komponente der eigenen Identität begriffen werden“ (S. 257). Seyran Ateş entwirft die „Vision“ einer – in ihren Worten – „transkulturellen Gesellschaft, in der Kulturen nicht mehr für sich nebeneinander existieren, sondern sich wirklich mischen und dabei etwas Neues entstehen lassen“ (S. 247). Die „Besonderheit des transkulturellen Konzeptes liegt darin, dass es kulturelle Identität nicht aus einer, sondern aus mehreren Perspektiven betrachtet“ (S. 257). Wenn Necla Kelek, ständiges Mitglied der „Islamkonferenz“ der Bundeskanzlerin, in ihrem jüngsten Sachbuch (2009) erklärt „Migranten können, wenn sie sich auf die ‚neue Heimat‘ einlassen, überall Erfolg haben. Sie sind in zwei Kulturen zu Hause, können aus beiden das Beste schöpfen, zu ihrem eigenen Nutzen und dem der aufnehmenden Gesellschaft“ (S. 334), so wiederholt sie das, was die deutsch-türkische Rapperin Aziza-A bereits 1997 auf ihrer Debüt-CD „Es ist Zeit“ ihren „Schwestern“ zugesungen hat:

In den zwei Kulturen, in denen ich aufgewachsen bin,
ziehen meine lieben Schwestern meist den kürzeren...
 ja, ja, nun ich nehme mir die Freiheit, Aziza-A tut, was sie für richtig hält,
auch wenn sie aus den Augen der ganzen Sippe fällt
und niemand sie zu den gehorsamen Frauen zählt.
Ist mir egal, ich muss sagen was ich denk. ...
Mit HipHop vermischt erreicht meine Stimme auch die Ohren
derer, die ihre dicken Finger in ihre Ohren bohren.
Nichts sehen, nichts hören wollen...“

Solche Forderungen gehen nicht nur über das pädagogische und politische Management des status quo hinaus, sie entwickeln auch das Konzept der multikulturellen Handlungskompetenz oder gleichbedeutend der multikulturellen Identität „visionär“ weiter. Mit diesem „visionären“ Ansatz stehen derartige Forderungen in der guten Tradition interkultureller Musikerziehung. Hier sollte meines Erachtens heute die Musikpädagogik ansetzen. Die Musik ist dabei nicht konturlose Weltsprache und Musizieren ist nicht beliebiges sozial-integratives Handeln. Musik ist ein Gegenstand, mit dem auf prototypische Weise multikulturelles Handeln praktiziert werden kann, der aus unterschiedlichen Aspekten „betrachtet“ und in unterschiedlicher Weise „verstanden“ werden kann. Der Musikunterricht kann ein ideales Aktionsfeld der „Anerkennung“ im Sinne der Migrationspädagogik sein.

 

Zitierte Literatur

Ateş, Seyran (2008): Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin: Ullstein.
Ateş, Seyran (2009): Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift. Berlin: Ullstein..
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2009): Engagiert für Integration. Berlin: Eigenverlag.
Elstner, Christine (2006): Der Einsatz von Musik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Oldenburg: Magisterarbeit am Institut für Musik.
Geißler, Heiner: Zugluft – Die multikulturelle Gesellschaft. In: Multikultopia. Gedanken zur multikulturellen Gesellschaft, hg. von Stefan Ulbrich. Vilsbiburg: Arun-Verlag, S. 69-97.
Greve, Martin (2001): Der Marsch durch die Institutionen. Auf der Suche nach deutsch-türkischer Musikausbildung. In: Üben und Musizieren 5/2002, S. 16-21.
Greve, Martin (2003): Die Musik der imaginären Türkei. Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland. Stuttgart: Metzler.
Hafen, Roland (2000): Das Musik-Curriculum in den Modell- und Vergleichsschulen. In: Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, hg. von Hans Günther Bastian. Mainz: Schott, S. 143-171.
Kelek, Necla (2009): Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei. München: Goldmann.
Kertz-Welzel, Alexandra (2007): Kann multikultureller Musikunterricht die Gesellschaft verändern? Erfahrungen aus den USA. In: Musikpädagogische Forschung Band 28, Interkulturalität als Gegenstand der Musikpädagogik, hg. von Norbert Schläbitz. Essen: Die Blaue Eule, S. 80-87.
Klebe, Dorit (2004): „Kanak“ my name... ich heiße „Mensch“. In: Von Oi bis Türkü. Musik zwischen den Kulturen, hg. von Matthias Kruse. Stuttgart: Klett..
Özkan, Aygül (2010): „Beide Seiten sind gefordert“. In: Focus 17/2010, S. 36-38.
Schedtler, Susanne (1999): Das Eigene in der Fremde. Einwanderer-Musikkulturen in Hamburg. Münster: LIT-Verlag.
Stroh, Wolfgang Martin (1999): „Ich verstehe das, was ich will!“ Handlungstheorien angesichts des musikpädagogischen Paradigmenwechsels. In: Musik und Bildung 3/1999, S. 8-15.
Stroh, Wolfgang Martin (2000): „eine welt musik lehre“ Begründung und Problematisierung eines notwendigen Projekts. In: Musikpädagogische Forschung Band 21, Kultureller Wandel und Musikpädagogik, hg. von Niels Knolle. Essen: Die Blaue Eule.
Stroh, Wolfgang Martin (2002): Multikulti und die interkulturelle Musikerziehung. In: AfS-Magazin Heft 11 6/2002, S. 3-7.
Süssmuth, Rita (2006): Migration und Integration. Testfall für unsere Gesellschaft. München: Deutscher Taschenbuchverl
ag.