Informationen, Konzepte und Materialien zum Interkulturellen Musikunterricht

Die Multikulturelle Musikerziehung

Zum Terminus "Multikulti" siehe die Seite "Multikulti ist mausetot!" - Siehe auch zur Terminologie.

Mit meinem Namen ("Wolfgang Martin Stroh") ist in der deutschen Literatur die Bezeichnung "multikulturelle Musikerziehung" verknüpft. Was soll das? Gibt es hier einen signifikanten Unterschied zur Interkulturellen Musikerziehung?

0. Im Zusammenhang mit der Vorstellung des Oldenburger Projekts "eine welt musik lehre" vor dem Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung habe ich 1999 dargelegt, dass es in Deutschland so etwas wie "multikulturelle Individuen" und "multikulturelle Identitäten" gibt - und dass dies Faktum von der Musikpädagogik noch nicht konsequent zur Kenntnis genommen worden ist. (Download des Referats hier.)

1. Die Bezeichnung "multikulturelle Musikerziehung" habe ich 2002 im AfS-Magazin für den Berliner Kongress "Musikkulturen - fremd und vertraut" erstmals verwendet. Zuvor habe ich in diversen Besuchen und Gegenbesuchen mich mit der US-amerikanischen "multicultural music education" beschäftigt und deren Ansatz für gut empfunden. (Download des Aufsatzes hier.) Geichzeitig geriet in Deutschland der Terminus "Multikulti" zum Schimpfwort: siehe dazu genauer "Multikulti ist mausetot!" Nicht nur die Kanzlerin (Merkel) und die Grünen sondern auch prominente Deutschtürkinnen distanzierten sich von der "Multikulti-Doktrin".

2. Sowohl 2002 als auch heute (2023) gehe ich davon aus, dass man den Zustand der deutschen Gesellschaft als "multikulturell" bezeichnen kann. Das ist zunächst rein beschreibend: Menschen praktizieren unterschiedliche Kulturen gleichzeitig, durch-, neben- und miteinander. Es gibt in Deutschland keine (monokulturelle) Leitkultur. Oder, besser gesagt, die Leitkultur ist multikulturell. Dabei kann eine einzige Person multikulturell sein (wenn sie das gar nicht mehr merkt, wird das dann mit "transkulturell" bezeichnet), aber auch eine Schulklasse, eine Familie, ein Stadtbezirk, ein ganzes Land.

3. Der Begriff "Multikulturelle Musikerziehung" soll an die Tatsache der multikulturellen Gesellschaft erinnern und sie im Kontext ihrer Zielvorstellungen, Methoden und Inhalte auch berücksichtigen. Das Ziel der Multikulturellen Musikerziehung ist die musikbezogene "multikulturelle Handlungskompetenz". Dies habe ich ja schon im Abstract geschrieben: "Ziel der IME ist die Schüler/innen zu befähigen, aktiv, bewusst, selbstbestimmt und sozial in der multikulturellen Migrationsgesellschaft und einer globalisierten Welt musikalisch tätig zu sein" ... nur, dass ich dort "interkulturell" statt "multikulturell" gesagt habe.

4. Seit dem Integrationsgipfel 2007 (infolge des von der rotgrünen Regierung hart erkämpften "Zuwanderungsgesetzes") ist "Integration" das Zauberwort und die offizielle politische Richtlinie. Wer jetzt noch auf Multikulturalität beharrt, widersetzt sich dem neuen Geist, der allerdings die fatalen Züge von Assimilation, die Integration immer auch hat, mit dem Kosewort "Teilhabe" umschreibt. "Integration", so heißt es heute in Regierungserklärungen, sei Teilhabe bei Wahrung einer kulturellen Identität. Ja was nun!? Im Integrationsbericht 2021 heißt es dazu: "Nach Überzeugung der Fachkommission ist es erforderlich, ein offenes Selbstverständnis von 'Deutschsein' mit Zugehörigkeitskriterien zu entwickeln. Damit soll die Diversität des Einwanderungslandes Deutschland unterstrichen und die Grundlage für ein gutes Miteinander geschaffen werden, ein neues 'Wir'." Es fällt aber auch auf, dass in diesen Bericht zahlreiche multikulturelle Gedanken geäußert und friedlich neben die Integration und das Wir-Gefühl ("Leitkultur"-Ersatz?) gestellt werden: Zukunftsfaktor Vielfalt, Teilhabe beginnt durch interkulturelle Öffnung, usw.

5. Sowohl im Integrationsbericht als auch in zahlreichen musikpädagogischen Publikationen taucht der Begriff "Diversität" auf. Da sich dieser Begriff aber nicht nur auf kulturelle Vielfalt sondern auch auf Genderprobleme, Menschen mit Behinderung usw. bezieht, ist er unscharf geworden und kein Ersatz fü das, was "Multikulti" meint. Dies dürfte der entscheidende Grund dafür sein, dass der Terminus "Multikulturelle Musikerziehung" noch immer als eine präise Bezeichnung für das, was auf der vorliegenden Internetplattform als "Interkulturelle Musikerziehung" abgehandelt wird, gelten kann.

6. Eine Uminterpretation von "Multikulturalismus" wird seit einiger Zeit von den "Identitären" vorgenommen: sie bezeichnen sich als die "Vollstrecker des wahren Multikulti" und verbieten z.B. einer weißen Lesbe wie Caroline Fourest über die Unterdrückung schwarzer Frauen zu schreiben, oder Kindern im Karneval Tredlocks zu tragen, da diese Ausdruck schwarzer Energie seien, die nicht kulturell angeeignet werden dürfe. Der (marxistische) Begriff der Aneignung wird zum Schimpfwort. Wer Multikulturalismus so verwendet, der kann natürlich überhaupt keinen interkulturellen Unterricht machen. (Lesen Sie hierzu die Grundlagentexte von Hömberg und Barth!

FAZIT: Inhaltliche Unterschiede zwischen Multikultureller Musikerziehung und dem auf der vorliegenden Plattform entwickelten Konzept Interkultureller Musikerziehung gibt es nicht mehr. Der Terminus grenzt also ein bestimmtes Konzept Interkultureller Musikerziehung ein. Kern dieses Konzept ist die Zielsetzung, wie sie unter Punkt 3 zitiert und im Abstract ausformuliert worden ist.

Ich habe das Thema "Multikulti" auch als Leitthema für die Einführung ins Musikwissenschaftliche Studium für Erstsemester verwendet. Wie solch ein Kurs aussieht und was sich dabei ("nebenbei") an empirischen Befunden zur multikulturellen Kompetenz von Musikstudent/innen ergeben hat, lesen Sie hier: Uni-Seminar "Multikulti" und "Erinnerungen an meinen Musikunterricht".